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Trügerische Wirklichkeit - Die Welt des Philip K. Dick
Von Dr. Franz Rottensteiner

Vorwort der Redaktion: Dr. phil Franz Rottensteiner, Science Fiction-Freunden oft als Herausgeber der SF-Zeitschrift "Quarber Merkur" bekannt, analysiert das Werk von Philip K. Dick. Eine interessante Konstellation, gilt Rottensteiner doch als intimer Kenner der Science Fiction, was er als Lektor vieler herausragender SF-Reihen bewies. Nur eine seiner Thesen: Realität ist bei Dick nur eine dünne Haut über einem brodelndem Chaos von psychotischem Grauen. Ein schönes Essay!

Die Science Fiction ist ein diffuses unterhaltungsliterarisches Genre, das die verschiedensten Richtungen und Gattungselemente in sich vereinigt - und auch die eklatantesten Niveauunterschiede aufweist, so dass es schwerfällt zu sagen, was die Science Fiction eigentlich ist. Die bekanntesten Autoren sind nicht notwendigerweise die Besten. Isaac Asimov und Arthur C. Clarke, international am erfolgreichsten, sind höchst mittelmäßige Schreiber. Im deutschen Sprachraum gilt am ehesten Stanislaw Lem als SF-Autor von literarischer Qualität, aber außerhalb der deutschen Grenzen, in Holland oder Dänemark etwa, ist er ungelesen, die polnische Literatur hat ihn nie zur Kenntnis genommen, und seitdem der polnische Buchmarkt nicht mehr gegen das Ausland abgeschottet ist, wie es während des kommunistischen Regimes der Fall war, sind Lems polnische Auflagen sehr bescheiden geworden. Lems philosophische Prätention, sein pseudowissenschaftliches Gehabe und sein schwerfälliger Humor scheinen den deutschen Leser besonders anzusprechen und haben ihn zu einem Ephraim Kishon der SF werden lassen.

Die angloamerikanische Science Fiction ist außerordentlich vielfältig, eine dominierende Gestalt wie seinerzeit Jules Verne oder H.G. Wells fehlt; Ray Bradbury, Kurt Vonnegut und Ursula K. Le Guin sind möglicherweise jene Autoren, deren Namen den größten literarischen Klang haben.

Ein Autor aber hat, vor allem im Zeitraum seit seinem Tod 1982, ständig an Bedeutung gewonnen: Philip K. Dick. Das ist vor allem deswegen bemerkenswert, weil seine Karriere die typischen Stadien eines Schreibers von Massenliteratur durchlaufen hat und seine Literatur keine der SF-Metaphern auslässt; man findet in ihm alle Klischees der billigsten SF. Aber dennoch... Dicks Erzählungen und Romane sind vor allem unprätentiös, sie sind nicht die Produkte eines Autors, der mit dem Anspruch literarischer Außergewöhnlichkeit antritt; Dick gibt sich auch nicht als Philosoph, der sich berufen fühlt, die Probleme der Welt zu lösen. Seine Geschichten sind die Erzeugnisse eines Schriftstellers, der vom Schreiben lebt. Man findet bei Dick alle Versatzstücke des SF-Universums, alle diese Atomkriege, lebensfeindliche, zerstörte Umwelten, Roboter und Androiden, Zeitsprünge und Zeitreisen, Kolonien im Weltall und Kriegführung zwischen ihnen und der Erde. Seine Helden sind häufig mit parapsychologischen Kräften aus dem Grenzbereich zum Okkulten ausgestattet: Hellsehen, Telepathie, Präkognition, Levitation, Psychokinese. Aber aus diesen abgedroschenen, durch wohlfeilen Gebrauch verschlissenen Ingredienzen der massenhaft produzierten SF macht Dick etwas, das unverkennbar eigenständig ist, Ausdruck seiner unverwechselbaren schriftstellerischen Präsenz, etwas, was die Massenware an Sinnstiftung und Bedeutung weit übersteigt.

Dick ist so etwas wie der Existentialist unter den SF-Autoren. Seine Romane erweisen sich, über das individuelle Werk hinaus, als Instrumente in einer mächtigen Orchesterkomposition, deren volle Bedeutung sich erst aus dem Ganzen erschließt, während Teile daraus durchaus rätselhaft bleiben mögen. Dick rekombiniert eine geringe Anzahl grundlegender Ideen, Gestaltungselemente und Motive in wechselnder Zusammensetzung. Am wichtigsten davon ist, dass er die Welt als Schlachtfeld von Kräften sieht, die sich der menschlichen Beherrschung entziehen - eine Vorstellung, die bei Psychotikern häufig anzutreffen ist. Das wirft eine Reihe grundlegender Fragen auf, die Dick immer wieder durchexerziert, etwa: Was ist Wahrheit, was ist Wirklichkeit, was ist geistige Gesundheit und was Wahn? Realität ist bei Dick nur eine dünne Haut über einem brodelndem Chaos von psychotischem Grauen.

Aus dieser ungewissen, brüchigen, oft eindeutig nicht feststellbaren Natur der Realität ergibt sich unausweichlich Dicks existentialistisches Hauptthema: die Integrität des in diese trügerische Welt geworfenen Individuums, seine Prinzipientreue selbst unter widrigsten Umständen. Wenn die ganze Welt unter dem Ansturm kosmischer, unkontrollierbarer Kräfte in Stücke zu gehen droht, verbleibt dem Individuum nur ein heroisches Ausharren in seiner Menschlichkeit. Die Realitätsveränderung ist die Folge kosmischer Kräfte, außerirdischer Einwirkungen, von Zeit- und Raumphänomenen, bewusstseinsverändernder Drogen, Illusionstechniken oder politischer Manipulation. Häufig bei Dick ist der Gegensatz Mensch - Roboter. Menschen sehen wie Roboter aus, werden zu Robotern und verhalten sich wie Roboter, und Roboter gehen als Menschen durch. In unzähligen Romanen Dicks findet sich ferner ein Gegensatz zwischen echten Schöpfern und falschen Schöpfern. In gesellschaftlichem Maßstab sieht er Konflikte nicht als Klassenauseinandersetzungen zwischen Unterdrückern und Unterdrückten, sondern als ein Spiel zwischen Eigen- und Fremdgruppen. Dick ist aber auch ein Mystiker, der sich in seinen Geschichten um wissenschaftliche Glaubwürdigkeit und Begründung gar nicht kümmert; er schreibt aus dem Bauch, nicht mit kühlem Kalkül, und gerade dadurch werden in seinen Texte Probleme verkörpert und nicht bloß zur Sprache gebracht; Probleme, die man nicht anders als philosophische bezeichnen kann.

In einer Hinsicht ähnelt Dick auch dem Horror-Bestseller-Autor King: er ist (unter anderem) auch ein exakter und anregender Chronist der amerikanischen Wirklichkeit, er vernachlässigt ob der kosmisch-psychotischen Züge seiner Prosa keineswegs die Alltagswelt. Seine Romane, so phantastisch sie in vieler Hinsicht anmuten, enthalten immer auch sehr realistische Einzelheiten des amerikanischen Lebens und verblüffen durch überraschende, stimmige Details, etwa sprechende Haushaltsgeräte oder die Wohnungstür in Ubik, die man erst passieren kann, nachdem man eine Münze eingeworfen hat. Das ist phantastischer Kapitalismus!

Der Roman Zeit aus den Fugen (1959, bei Haffmans erschienen), zeigt diese Vorzüge in reichem Maße. Es ist ein täuschend einfacher Roman, der gerade durch die Schilderung eines amerikanischen Kleinstadtmilieus aus den fünfziger Jahren besticht. Nichts erweckt zunächst den Anschein, dass es sich um SF handeln könnte. Wie in eigentlich phantastischen Romanen wird erst allmählich klar, dass die geschilderte Umwelt etwas Unwirkliches hat, durchaus nicht mit der realen Welt der fünfziger Jahre ident ist. Aber anders als in phantastischen Romanen gibt es keinen Einbruch des Übernatürlichen, keiner der Figuren kommt es in den Sinn, an jenseitige Einwirkungen zu denken. Der Roman stellt vielmehr die Frage nach der Natur der Wirklichkeit. Kleine Details wirken falsch, niemand kennt zum Beispiel Marilyn Monroe, von der eine in einer alten Ruine gefundene Illustrierte berichtet. Ein aufgefundenes Telephonbuch listet eine Reihe von Anschlüssen, die nicht zu erreichen sind. Radios gibt es seltsamerweise nicht, und als ein kleiner Junge einen Detektor bastelt, empfängt er etwas, was wie Funkverkehr zwischen Raumschiffen klingt. Ein Ausbruchsversuch führt in eine Alptraumlandschaft, deren Grauen sich aus ihrer Leere ergibt. Es scheint, dass eine Kleinstadt als Kulisse errichtet wurde.

Der Held, der 46-jährige ledige Ragle Gumm, der sich noch an seine Erlebnisse im 2. Weltkrieg erinnert, bestreitet seinen Lebensunterhalt durch die regelmäßigen Gewinne bei einem merkwürdigen Zeitungswettbewerb, bei dem es darum geht, aus den gelieferten Indizien intuitiv herauszufinden, "wo das grüne Männchen als nächstes sein wird" in einem Gebiet von Planquadraten. Die ganze Situation wird höchst verdächtig, wie Dick an alltäglichen Einzelheiten vorführt. Der Held fühlt ich verfolgt und entwickelt eine Erklärung, die dem klassischen Bild von Paranoia zu entsprechen scheint: "Weil ich der Mittelpunkt des Universums bin. Das ist zumindest das, was ich aus ihren Aktionen schließe. Sie verhalten sich so, als ob ich es wäre. Das ist das einzige, was ich weiß. Sie haben sich viel Mühe gegeben, eine Scheinwelt um mich herum aufzubauen, damit ich friedlich bleibe. Häuser, Autos, die ganze Stadt. Alles sieht natürlich aus, ist aber vollkommen unwirklich. Der Teil des Ganzen, den ich nicht versteh, ist der Wettbewerb."

Gerade der Wettbewerb ist die Hauptsache. Die Science Fiction ist eine Literatur, die Metaphern, Gleichnisse und Symbole beim Wort nehmen kann; genau das tut Dick. Ragle Gumm ist in gewissem Sinn wirklich der wichtigste Mensch in dieser Welt, die ganze Scheinrealität von 1959 ist nur für ihn geschaffen worden, eine ganze Stadt wurde in die Wüste hineingestellt, um ihm eine heile Welt vorzuspiegeln. Gumm hat ein seltenes Talent: er kann Muster erkennen, so auch, wo die Raketen, die in einem Krieg von der Mondkolonie auf die Erde abgefeuert werden, am nächsten einschlagen werden. Er war zunächst für die diktatorische Erdregierung tätig, wollte dann überlaufen, und um das zu verhindern, und um seine Gabe weiterhin zu nutzen, wurde die Scheinwelt von 1959 mit dem Wettbewerb als getarnte Rätselaufgabe inszeniert.

Dicks bekanntester Roman ist wohl, dank des Films Blade Runner von Ridley Scott, Do Androids Dream of Electric Sheep?, der von Haffmans unter dem Filmtitel als vervollständigte Neuausgabe vorgelegt wurde. Handlungsmuster des Romans ist die Jagd auf Androiden, die vermutlich alle ihre menschlichen Herren auf dem Mars getötet haben und auf eine nach einem Atomkrieg nahezu menschen- und lebensleere Erde geflüchtet sind. Auf der Erde leben nur noch die Menschen, die nicht zu den Planetenkolonien auswandern wollten oder durften, weil sie "Spatzenhirne" oder "Sonderfälle" sind, Menschen mit Missbildungen.

Rick Deckard arbeitet als Kopfgeldjäger, als Polizist, der die Androiden nicht nur dingfest machen, sondern auch gleich exekutieren soll. Die Androiden gelten nämlich, so menschenähnlich sie sind, als Dinge und Eigentum. Die auf der Hand liegende Frage, ob die Tötung von Androiden nicht als Mord zu betrachten sei, da die Androiden doch Bewusstsein haben, wird an der Oberfläche nicht gestellt. Deckard zerbricht sich nicht den Kopf darüber, er erfüllt seine Aufgabe und sucht sein karges Gehalt durch Prämien für erlegte Androiden aufzubessern. Mit dem Geld sucht er seinen sozialen Status zu erhöhen. Der ist auf der verstrahlten Erde an den Besitz von Tieren geknüpft. Er hat es nur zu einem elektrischen Schaf gebracht, das auf dem Dach seines Wohnblocks grast. Ein echtes Tier zu kaufen, würden ihm die Prämien von der Erledigung einer neuen Gruppe von Androiden vom Typ Nexus 6 ermöglichen. Er beschwichtigt sein Gewissen damit, dass die Androiden nur Raubtiere sind; anders als ein Kollege, dem es Spaß macht, Androiden zu töten, ist er kein lusterfüllter Exekutor.

Die Androiden sind angeblich nur durch einen psychologischen Test von den echten Menschen unterscheidbar, was natürlich nur eine Metapher ist; für Dick liegt der essentielle Unterschied zwischen Mensch und künstlicher Schöpfung in der Fähigkeit, "empathische Freude für das Glück einer anderen Lebensform oder Trauer bei deren Unglück zu empfinden". Die Androiden sind zwar sehr intelligent, aber sie können keine Tierliebe und kein Mitgefühl für Menschen entwickeln. Aus dem gleichen Grund entwickeln sie auch kein Solidaritätsgefühl für ihresgleichen, obwohl die Logik ihnen doch gebieten würde, schon zusammenzuhalten, weil darin ihre einzige Überlebenschance liegt. So erscheinen sie in dem Roman nicht als eiskalte Mörder, sondern eher als pathetische Opfer, und die Sympathie des Lesers wendet sich ihnen als einer verfolgten Minderheit zu. Daß sich ein Androide als Polizist getarnt hat, dürfte eine jener Überraschungen sein, die wie Thriller- auch die SF-Autoren für ihre Leser ohne Rücksicht auf Logik immer bereithalten. Er scheint vor allem ineffizient zu sein.

Deutlicher wird die Opferrolle aber bei der Opernsängerin Luba Luft, die mit so klarer und voller Stimme Mozart singt, daß nichts daran erkennen läßt, daß sie kein Mensch ist. Soll man sie sich als kalte Mörderin vorstellen, die es verdient, daß ihr der Kopf weggeblasen wird, wie es ihr geschieht?

Dick führt auch die "Grausamkeit" der Maschinen vor. Um herauszufinden, ob eine Spinne auch auf vier Beinen noch laufen kann, reißt ihr ein Android die Beine aus. Grausamkeit? Eher Ironie. Die Spinnen gelten nämlich bereits als ausgestorben, es war vielleicht die letzte Spinne auf der Welt. Aber dann läuft dem Helden eine Kröte über den Weg, auch sie ein Tier, das als ausgestorben gilt. Seine Frau entdeckt aber, was er nicht wahrhaben will, dass es ein elektrisches Tier ist - was die Vermutung nahelegt, dass auch die Spinne keine echte Spinne war. Was ist die einzigartige menschliche Qualität, die den Androiden unzugänglich ist? Es gibt ja auch eine kleine Gruppe schizophrener Patienten, die an einer so genannten "Affektabflachung" leiden und die den Voigt-Kampff-Test zur Unterscheidung von Mensch und Android nicht bestehen.

Überdies ist die Frage "authentischer" Gefühle recht zweifelhaft, denn die Menschen der Zukunft lassen ihre Gefühle in einem Penfield genannten Gerät von außen steuern, sie können darauf gewünschte Stimmungen einstellen.

Eine große Rolle im Roman spielt auch eine mystische Religion, der "Mercerismus". Der Gläubige kann dabei hautnah miterleben, wie diese Erlöserfigur immer wieder einen Berg besteigt und dabei von seinen Gegnern mit Steinen beworfen und verletzt wird. Den Gläubigen gelingt eine enge Identifikation mit dieser Gestalt, sie gehen in einer Gemeinschaft auf, in einer Weise, die den Androiden unmöglich ist. Es nützt auch nichts, dass die Androiden eine populäre Fernsehfigur einsetzen, um Wilbur Mercer als Schwindler zu entlarven, als alten Schauspieler, der vor einem Kulissenmond mit harmlosen "Steinen" aus Kunststoff beworfen wird. Das mystische Erleben des Einswerdens mit Mercer, das die Gläubigen erfahren, wird von solchen Enthüllungen nicht im mindesten berührt, die Grundlagen des Mercerismus werden dadurch nicht erschüttert.

Der Gegensatz natürlich - künstlich, kalte Rationalität - Mitempfinden bestimmt die Strukturen des Romans, und was ihn von vielen anderen SF-Romanen abhebt, ist die verletzliche, oft groteske Menschlichkeit, das Mitgefühl mit seinen Figuren, selbst den unbedeutendsten unter ihnen (wie das "Spatzenhirn" R.A. Isidore), ein tiefverwurzelter Glaube an den Wert der Person, der sich nicht bloß auf den Menschen erstreckt, sondern implizit auch andere "Lebensformen" miteinschließt.

Zur Person: Dr. phil Franz Rottensteiner, Jahrgang 1942 (Studium der Publizistik, Anglistik und Geschichte an der Universität Wien) wirkte rund 15 Jahre als Bibliothekar an einem Forschungsinstitut. Daneben arbeitete er für verschiedene Verlage, unter anderem betreute Rottensteiner die Reihen der "Phantastischen Romane" und der "H. G. Wells Edition" im Paul Zsolnay Verlag sowie "Science Fiction der Welt" im Insel Verlag. Danach widmete er sein Wissen der "Phantastischen Bibliothek" im Suhrkamp Verlag. Zudem ist Rottensteiner Herausgeber von rund 50 Anthologien, auch in den USA, Japan, den Niederlanden und Italien. Es erarbeitete zwei Bildbände "The Science Fiction Book" (1975) und "The Fantasy Book" (1978) und wirkte an zahlreichen Lexika der Science Fiction und Fantasy mit. Seit 1985 ist Rottensteiner freiberuflicher Autor und Verlagskonsulent.

Links zum Thema:
Erster Deutscher Fantasy Club - Quarber Merkur | Menschlicher als menschlich - about Blade Runner


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